Oebisfelde - Reise in die Kindheit

Jedes Jahr verbrachte ich als kleiner Junge die Sommerfrische in Oebisfelde. Es war eine beschwerliche Fahrt, wir fuhren, damals noch vor der Mauer, durch West-Berlin bis Staaken, wo, wieder auf DDR-Seite, ein Bummelzug, noch aus der Kaiserzeit, die sogenannten "preußischen Abteilwagen", nach Oebisfelde ging. Acht Stunden ging die Fahrt und an jeder Station wurde gehalten. Ich erinnere mich sehr gerne an die Aufenthalte in Oebisfelde, es war solch ein schönes ländliches Leben und meine Tante zeigte mir so viel von Natur und einfachem Leben. Sie war eine fleißige, redliche Frau, hatte zwei Kriege überlebt und zweimal ihre kleinen Ersparnisse verloren. Doch mit Gottesglauben und protestantischer Arbeitsethik gelang dieser Generation das bescheidene Überleben in der stürmischen Weltgeschichte des so turbulenten 20. Jahrhunderts.

Im Hühnerstall bei meiner lieben Tante Ida, die wie eine Oma für mich war. Sie war die Schwester meines Großvaters, den ich nie kennenlernte.
Im Hühnerstall bei meiner lieben Tante Ida, die wie eine Oma für mich war. Sie war die Schwester meines Großvaters, den ich nie kennenlernte.

Tante Ida starb 1968, sie hatte einen sehr beschwerlichen Tod, sie ist verhungert, Darmkrebs, sie konnte keine Nahrung mehr bei sich behalten. In ihrer Not des langsamen Sterbens zweifelte sie wohl an der Gerechtigkeit und Güte Gottes, was den Pfarrer bei seiner Totenrede veranlasste, sie in die Sphäre einer Abtrünnigen zu verdammen, weil sie, auch in schwerer Not, nicht mehr an den Herrn Jesus glaubte, was man aber von einem Christenmenschen unbedingt verlangen musste. Ich, damals gerade 17 Jahre alt, Abiturient und von linkem Gedankengut befangen, war empört über die Äußerungen dieses Pfarrers und es bestätigte mein Bild von der Kirche.

Einmal, gleich nach der Wende, bin ich mit meiner Familie noch einmal nach Oebisfelde gefahren und ich besuchte die Orte, an die ich mich noch erinnern konnte, v.a. das Haus in der Stendaler Straße, ihren Garten und natürlich das Grab, das damals noch existierte, aber zugewachsen war. Ein kleiner Strauß verwitterter Plastikblumen zeugte von einer noch nicht sehr lange unterbrochenen Grabpflege durch eine entfernte Verwandte, die sich damals testamentarisch verpflichtete, das Grab zu pflegen, im Gegenzug den Garten der Tante erbte. Wie wir erfuhren, war die Dame vor nicht langer Zeit auch verstorben.

Wahrscheinlich wäre ich nie wieder nach Oebisfelde gekommen, hätte ich nicht im Netz Lilly kennengelernt. Es war ein sehr kulturvoller Weg des Kennenlernens, wir tauschten Poesie aus, schickten uns selbstverfasste Gedichte und fanden beiderseits Gefallen an unseren Elaboraten. Irgendwann kamen wir dann auf unsere eigene Geschichte, unsere Herkunft -  und sie schrieb, "Ich komme aus einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt, du wirst sie nicht kennen: Oebisfelde"... Goooiiiing, ich war platt, jemand aus Oebisfelde, den Ort meiner gelebten und geliebten Kindheit - und schon fing ich an zu sprudeln, erzählte ihr alle Details meiner Erinnerungen. Orte, Personen, Namen, Erlebnisse, Erinnerungen. Ja, das war es und ich erhielt so viele Bestätigungen über das alte Oebisfelde, es war ja schließlich die gleiche Generation, die gleiche Kindheit. So verbrachten wir viele Abende im Netz und reisten virtuell nach Oebisfelde.

Irgendwann erfuhr ich, dass der Alltag für die dort lebenden Menschen nicht so erquicklich war, die Reichsbahn war der Hauptarbeitgeber, die Grenze und die Sperrzone schränkten das Leben dort beträchtlich ein. Deshalb ist Lilly mit ihrer Familie auch schon zu DDR-Zeiten nach Berlin gezogen, ein besseres Leben zu finden, was ich nach ihren Einlassungen auch gut verstehen konnte.

Es blieb nicht beim Chatten, irgendwann hatten wir unser erstes reales Treffen, im Kino Casablanca sahen wir den Film "Haialarm am Müggelsee", anschließend waren wir noch auf einen Milchkaffee in einer benachbarten Kneipe in Adlershof. So begann eine leise Beziehung, die vor allem, jedenfalls von meiner Seite, von der Ratio geprägt war.

Aber wir beschlossen gleich, irgendwann mal nach Oebisfelde zu reisen. Im Jahre 2014 war es dann soweit. Ende Juni, Oebisfelde feiert sein 1.000-jähriges Jubiläum.

Und so stehe ich in der Erich-Weinert-Straße, wo wir bei ihrer Mutter auf zwei Tage wohnten. Nach dem familiären Kontext hatte ich den unbändigen Wunsch, mich nun auf den Weg zu machen, die alten Orte der Erinnerung aufzusuchen. Los gehts!

Gleich neben der Erich-Weinert-Straße liegt die Bertolt-Brecht-Straße, gleich um die Ecke. Dort wurden in den fünfziger Jahren für die Land- und andere Arbeiterfamilien Reihenhäuser gebaut, mit für damalige Verhältnisse erstaunlich hohem Niveau. Tante Ida hat immer geschwärmt, wenn wir die Verwandten dort besuchten, wohnte sie doch in einer sehr bescheidenen Wohnung, das Schlafgemach war eine Bodenkammer, natürlich ohne Dachisolierung und der Wind pfiff durch die Dachziegel. In der Nummer vier wohnte die Familie. Was mir damals besonders auffiel, war dass im Hof Ställe gebaut wurden, wo die Bewohner Schweine mästen konnten. Sie gehörten inhärent zu den Reihenhäusern und die Menschen konnten so ihr knappes Salair aufstocken und dazu die stets prekäre Versorgungslage an Fleisch verbessern.


Es ist nicht weit, von der Bertolt-Brecht-Straße zum Sportplatz, wo ich als kleiner Junge so gerne Federball gespielt habe. Die ganzen Straßen werden dort neu gebaut, deshalb überall Sperrungen. Irgendwie landen wir aber doch am Sportplatz, wo gerade ein Fußballturnier stattfindet. Ok, trinken wir halt ein Bier. Lilly trifft einen alten Klassenkameraden und erfährt von den Schicksalen so mancher Zeitgenossen. Tod, Krankheit, berufliche Einbrüche und Scheidungen sind die zumeist tragischen Nachrichten aus den Biographien junger Lebensbegleiter. Ich schaue mich um, den Sportplatz erkenne ich noch, aber er hat so ein anderes Gesicht. Realist, der ich bin, verstehe ich das, trotzdem bin ich irgendwie enttäuscht und ich ahne auch für die anderen Sichten schon, wo ist meine Erinnerung geblieben? Klar, in fast 50 Jahren muss die Welt sich ja verändern, aber ich höre in meinem Innern immer noch den Traktor, der nachts über das Kopfstein-pflaster fuhr, in den 50ern - und ich in der zugigen Dachkammer schlief.


Nicht lange und wir landen am Jägerhof, ein markantes Backsteingebäude, schon von Weitem auszumachen. Links gehts jetzt durch einen weitgedehnten Park, an dessen Rand sich die Aller müde entlangschlängelt. Ich hatte das Flüsslein naturlich etwas breiter und lebendiger in Erinnerung, wie alles in der Kindheitserinnerung als größer Bestand hat, es muss etwas mit der kindlichen Kleinheit zu tun haben, ein ganz anderer Blickwinkel.

Anlässlich des 1.000-jährigen Jubiläums waren in dem Park viele Bier- und Bratstände aufgebaut, ein Riesenrad, Karussels, Gartenpartygestühl und eine Bühne des MDR, wo sich abends lokale Schlagerkünstler präsentieren sollten. Wir nehmen Platz und ich atme tief durch. Wie lange habe ich diesen Weg nicht mehr beschritten. Früher gingen wir diesen immer, wenn wir zur Badeanstalt wollten, die es nun aber nicht mehr gibt.


Ich mache einige Fotos, setze sie hier als Galerie ein. Die Aller mit ihren Brücken, den Blick auf die Burg, welche zu meiner Kindheitszeit völlig verfallen war und den heute völlig zugewachsenen Eingang der Badeanstalt, wo mich mein Vater zu einem richtigen Jungen machen wollte und mich, damals noch Nichtschwimmer, vom 3-Meter-Brett schubste, Jungs müssen hart sein, er entstammte der Kriegsgeneration, Soldat in Russland, die noch ein, heute nicht mehr so übliches Männerbild, hatte. Meine Tante rief ihn damals "Mörder". Die letzten Bilder zeigen das Ende der Welt, denn hier war die DDR zu Ende. Gleich hinter der Badeanstalt sah man ein eisernes Tor, welches die Grenze markierte, damals noch vor der Mauer. Wozu aber das Tor? Wer sollte, konnte dort durch?  Jedenfalls existierte es aber. Heute hat die Natur sich wieder ihr Recht geholt und alles ist zugewuchert. An der kleinen Straßengabelung auf dem letzten Foto stand nach 1961 die Mauer. Man konnte nicht mal in ihre Nähe kommen, alles war militärisches Sperrgebiet.

Wenn man den Park verlässt, landet man am Vordereingang der Burg, die wir nun besuchen wollen. Man hat ihr ein neues Dach aufgesetzt, was nicht stilgerecht war und bei vielen Bürgern nicht nur Zustimmung bewirkte. Wir sehen im Innern alte Landarbeitsgeräte, Pferde- und Handwagen, Werkzeuge, ein sehr schöner alter Klostergarten hinter der Burg mit Obstpflanzungen und Kräutern. Im Burghof ein schönes altes Fachwerkhaus. Wir verlassen in Richtung Stadt, wieder durch eine schöne Gartenzeile. Kinder spielen auf dem Burghof, es ist ein sehr schöner Tag und ich bin so gespannt auf die schönen alten Sichten, die mich nun erwarten. Die Erinnerung an die eigentliche Stadt Oebisfelde hat ein tiefes Grau in meinem Bewusstsein. Wir besuchten damals in den 50ern, gleich hinter dem Rathaus, eine ältere Dame, in dem Haus roch es muffig, es schien damals alles so feucht in den Häusern gewesen zu sein, weil ja zumeist nur eine Stube beheizt wurde; in ihrem Wohnzimmer, wo wir dann saßen, roch es nach Baldrian. Sie fragte mich: "Willst ä Bollchen?" Bollchen hieß Bonbon, Ich weiß nicht, ob es der bodenständige Oebisfelder Dialekt war. Viele Menschen waren ja damals vertrieben und es mischte sich Schlesisch, Ostpreußisch, Westpreußisch und noch mehr. Aber den Satz habe ich mir gemerkt, seltsam, warum nur? Ich kann mich nur noch erinnern, dass die Verwandten meiner Tante niemals das Wort "mir" aussprachen. Während wir Berliner ja das "mich" oft ausblenden, "du kannst mir mal", ist es dort ganz umgekehrt, "da hab ich mich gedacht" hat sie oft gesagt. Seltsam, sie muss sehr viel gesprochen haben, an die Worte ihres Mannes kann ich mich überhaupt nicht erinnern, hab nur noch das Bild in mir, ein grobschrötiger Landmann, der redlich seinen Lebensunterhalt verdiente.

Wir sind auf einem Marktplatz gelandet. Ich hole 2 Bier, ein Hefeweizen und ein irisches Schwarzbier. Auch hier wurde eine Bühne aufgebaut, eine Zwei-Mann-Band spielt gerade "... the answer, my friend, ist blowing in the wind"... Eine sehr schöne Stimmung ist in mir und ich freue mich schon so sehr auf den weiteren Weg durch meine Geschichte.

Alles war in bunten Fähnchen, die Menschen lieben ihre Heimat, so viele war unterwegs. Wir trafen Lillys Schwester, die handwerk- liche Erzeugnisse, Bäumchen mit Perlen u.ä. auf dem Markt feil bot. Es schien ihr wohl wirtschaftlich nicht so gut zu gehen, aber sie war eine sehr sympathische Frau und was ich sehr gut fand, sie tut etwas, lässt sich nicht hängen.

Das Rathaus von Oebisfelde. Erst zu Beginn der 90er habe ich bemerkt, dass die Stadt ihren Roland hat. Ich mag Rolande.
Das Rathaus von Oebisfelde. Erst zu Beginn der 90er habe ich bemerkt, dass die Stadt ihren Roland hat. Ich mag Rolande.

Gleich hinter der oben abgebildeten Straße treffen wir auf die evangelische Kirche "St. Katharinen". Sie war meiner Tante Zuflucht, in manch so schweren Tagen - und sie war sehr gläubig. Hier auch erlebte ich ihre Totenmesse mit diesem seltsamen Pfarrer, den ich oben erwähnte. Ich habe in meinem inzwischen schon langen Leben keinen Menschen kennen gelernt, der so gottesgläubig war. Sie war es auch, die meinen Vater drängte, dass ich unbedingt getauft werden muss.


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