Später Mond in früher Stunde

 

Ich bin früh zur Arbeit gefahren - auf flachem Havelland, es war der sehr frühe Morgen nach der Vollmondnacht des
Novembers und er machte sich gerade daran, unterzugehen. Die Stimme der Göttin Samrumen sagte mir Worte

von nachhaltiger Bedeutung...

... Dieses hier ist mein kleiner Abendgruß für dich. Er soll dich in die Freiheit deines privaten Lebens begleiten, dort, wo du die Träume pflegen kannst und frei bist von den Unbilden des Alltags. Komm, ich nehme dich für ein paar Minuten mit. Wir kommen auch in Anubien vorbei... Kommst du mit? 

 

Schau noch einmal aus dem Fenster, nimm dir die Zeit, heute ist die Nacht des Vollmonds. Oh, ich habe ihn heute früh auf der Fahrt zur Arbeit gesehen als ich über flaches Land fuhr, durch's Havelland - vorbei an Ribbeck, worüber Fontane das so schöne Gedicht schrieb - und er so dicht über der Erde stand, so ganz kurz vor dem Untergehen. Er war so tief gelb, so ganz Dunkelgelb, welche Wärme, die von ihm ausging an diesem noch so kalten Morgen. Es war für mich das Schlüsselerlebnis des ganzen Tages. Es gibt wenige Vollmonde im Jahr, die sich so sehr in die Erinnerung setzen. Vielleicht, weil eine solch wunderbar klare Sicht war. Wie verloren doch die Stunden, da bei Vollmond dichte Wolken uns den Blick versperren. Heute aber war wieder solch ein Morgen. was kümmert mich da die Arbeit? Nur die Fahrt zählt noch und ich nehme so viel von dem Gas weg, Ärgernis der ewig Eiligen, die, immer zu spät dran, nun zu ihrem Dienst fliegen wollen. Und dann nun auch noch ich... Kein Platz für Träumer auf dieser Welt, auf dieser Straße...

 

... Eine Wolke steht vor dem Mond, lange, windlos, sie scheint sein Bestandteil, dunkleres Gelb nur, nichts mehr von einem Grau. Und ihre Schwestern, die sich in seinem Umfeld wie beschützend gruppieren, scheinen, schon ermüdet von dem langen Nachtwerk, in schüchternem Rotlila, noch ein kleines bißchen kontrastierend mit einem blauseinwollenden Grau, mit ihm gemeinsam den Horizont nun gleich zu berühren, bereit zu versinken in das schauderliche „Fürimmer“, welches immer nur dem Neuen, dem Jungen, Platz macht. Hier also dem neuen Tag. Niemals aber eine Rückkunft gestattend, noch einmal zu sehen, wie es steht, auf dieser Welt.

 

So also wird es dunkel auf der einen Seite der Welt. Das Versinken beginnt und mit ihm auch, wie so oft, ein Trauern immer nur weniger Menschen, unbeachtet. Eine Geburt auf der anderen. Und Hoffnung und Fröhlichkeit und eine neue Aufgabe. Damit wir nicht zu sehr trauern müssen, um vergebene Chancen, verlorene Menschen, Freundschaften, Lieben, Sehnsüchte, Energien, Leidenschaften.

 

Wichtig ist nur: vergessen wir den Abend nicht, wenn wir in den Morgen steigen. Lassen wir uns ein auf den Zauber des Ganzen!

 

In meinem Fenster spiegeln sich nun wieder die Kerzen. So wie ich durch die Scheiben in die nächtliche Hansestadt geschaut, worin ich in meinen Abendgedanken so oft verschwinde, ganz hinten dort vom Hafen die Dampfsirenen geliebter alter Schiffe hörend. Ich habe in den Scheiben immer ein Gesicht gesehen, wie es mich anlächelte.
Und seine Seele hat mir etwas zugeflüstert:

 

"... Heeee, Du, laß dich nicht beirren, geh deinen Weg und vertraue Samrumen und ihren Gehilfen, die dir doch nur Gutes wollen, auf daß unsere Seelen UND Körper aufeinander zufliegen und sich umschließen in der Kälte später Novembernacht. Ich will dir dabei helfen, aber DU mußt es WOLLEN, sonst geht es nicht. Samrumens Wünsche erfüllen sich immer nur über aktive positive Subjektivität. Denke darüber nach, du hast noch ein wenig Zeit... Aber unbegrenzt ist sie auch nicht“.

 

Und ganz langsam verschwand das Gesicht wieder, zunächst blieb nur eine Silhouette, die dann aber auch nach innen zerfloß. Ein leichtes Säuseln blieb, der Nachhall schöner Gedanken, die es mir eingehaucht. Und der Schwippbogen hat alles mitgehört und nun ist es weg, das Gesicht und ich rede nun mit ihm, es ist ein schöner Dialog, denn es antwortet mir in einer so sensiblen Sanftheit, als wäre seine größte Furcht, mich zu verletzen. Warum nur nimmt es diese Rücksicht auf mich?

 

Und dann kam es noch einmal wieder hat mich gefragt, ob ich auch aus meinem Fenster auch den Blick hätte auf die Menschen, dir mir wichtig wären in diesen Herbsttagen: ja doch, ich kann ganz weit sehen, bis zu ihnen, denn ich steige in den Tagen des Vollmonds immer auf den Schornstein der alten Brauerei in der Sismondigasse 23, dort, wo es immer so schön nach Hopfen riecht und von dort kann ich die ganze große Stadt überblicken und weit hinein bis in das Land, dort auch, wo im Frühjahr die Störche im überfluteten Luch ihre Frösche holen und wo die alte Zuglinie auch noch zwischen den Bahnhöfen hält, weil Menschsein vor Pünktlichkeit steht...

 

Alles kann ich sehen, wie jeder Mensch, man muß es nur wollen. Nur die Vertragsschließer haben ihre Probleme damit, sie können nur in den Dimensionen ihrer zäunig begrenzten Areale denken und ihr Blick kann Details schwer erkennen, sofern es sich um geldlose Materie handelt. Diese Art, in die Weite zu sehen, ist schon mehr ein Gegenstand der Sonnensucher, ihr Blick sucht ja gerade die Weite und Unendlichkeit, diese sind ihr adäquates Medium...

 

Oh Mondsucht, die ich liebe... Und das Havelland.

 

18.11.2004 © Ole Pauperkotte