... der Frühling ist heute sehr schön, ganz klarer blauer Himmel und weiße Wölkchen fliegen so sehr heiter an meinem Fenster vorüber, getrieben von einem noch kühlen Wind, der von Nordwesten von dem Großen Itulasee über das Land geht, unserer Sehnsucht nun doch folgend, allen Pessimisten zum Trotz. Wir haben doch so laut nach ihm gerufen und ich denke, Meister Lenz hat uns erhört. Laß den Wind ruhig noch ein wenig kalt sein, das gerade vom Winter befreite Meer im Nordwesten hat ihn gekühlt, auf daß er nicht übermütig werde, uns noch ein paar Tage Zeit zu lassen, bei dem Übergang in die neue Zeit. Denken wir noch mit etwas Besinnlichkeit an die warmen Abende in unseren Zimmern, wo wir Muße fanden, zu lesen, Musik zu hören, oder still mit uns selbst zu sein.
Nun aber will unsere Seele doch springen, in warme Morgenstunden, wo bunte Wimpel vergnügt im Wind flattern und hellblaue Seidenbänder die nun bald wieder erwachenden Birken so schön verzieren, am ersten Mai, wenn die Menschen die Auferstehung des Lebens feiern. So, wie damals, vor vielen Jahren, am Carlssoneck, als ich in sehr früher Stunde die lange, gerade, noch unbelebte Straße zu dem Ufer ging, ein morgendliches Bad zu nehmen in dem noch kühlen, frühlingshaften See. Nie werde ich diesen Morgen vergessen, es war alles noch so jung und frisch und ich merkte, Alleinsein muß nicht immer einsam sein...
In dem Garten hinter meiner Akademie betätigt sich eine schöne Gärtnerin und setzt bunte Pflanzen in die Erde. Sie macht das mit einer schön zu schauenden Liebe und Würde. Ihre Bewegungen sind sehr weiblich und noch sehr jung, dabei ist sie bestimmt schon Ende vierzig. Sie hat eine grüne Latzhose an, darüber braune Stiefel, ein buntes, warmes Hemd und eine dunkelrote Weste. Das blonde Haar hat sie sich hinten zu einem Knoten gebunden und ich sehe eine wahrhaft klassische Nase, einen schön gezeichneten Mund, den sie dunkelrot geschminkt hat, wie auch ein Lächeln, das immer wieder über ihre Lippen fährt. Sie ist jetzt öfter hier, gehört gar nicht zur Schule, arbeitet bestimmt für eine Gärtnerei. Wir sind uns unten im Garten schon ein paar Mal begegnet, sie hat mich erst angeschaut, ich muß irgendwie fröhlich geguckt haben, da hat sie gelächelt. Seitdem grüßen wir uns und wenn wir uns in die Augen schauen, ist es als, kennten wir uns schon seit Jahren. Ich mag diese Art freundlicher Bekanntschaften, die so ganz ohne Hintergrund oder Absichten eine Art von Verbundenheit schafft, obgleich man ja gar nichts über den anderen weiß. Ob ich sie mal zu einem Kaffee einlade? Sie ist mir irgendwie sympathisch. Bin bloß solch ein Angsthase.
Manchmal denke ich, sie spricht mit der alten, verwitterten steinernen Figur, die dort am Rand des Gartens steht, schon fast vollständig zugewuchert von einer Tujareihe, der man ihre Rousseau-gerechte Erziehungsfreiheit ließ. Immer, wenn sie in ihrer Nähe ist, verharrt sie in ihren Bewegungen und schaut auf sie, es muß irgendeine Verbindung zwischen ihnen geben. Ich denke darüber nach, warum sie diese mag.
Ich habe mich bei dem Hausmeister der Akademie nach ihr erkundigt, er kennt sie schon lange, sie wohnen dicht beieinander. Er hat mir ihre Geschichte erzählt.
„Es war im April 1983, da sind sich die beiden vor dieser Figur das erste Mal begegnet, Emma Sand und Michael, der Fischer, aus der Quitzowgasse, dort gleich neben der alten Brauerei. Emma war damals Projektantin in dem großen Bauunternehmen in der Hafenstraße, er fuhr zur See. Damals nahmen viele Menschen den Park als Abkürzung bei ihren Einkäufen, liefen rast- und achtlos an der Figur vorbei, nur Emma nicht und ebenso Michael. Beide verharrten jedes Mal einen kleinen Augenblick zu einer stillen Minute der Besinnung und auf ein kleines Zwiegespräch mit der mehr als achtzig Jahre alten Figur, welches ja eigentlich ein Monolog war, doch hatten SIE ein anderes Gefühl, sie konnten wenigstens die Antwort ahnen, waren eben zwei besondere Menschen, zwei Träumer. Und an diesem Apriltag standen sie nun zufällig nebeneinander, ihrem geliebten Kult zu dienen. Michael war zum Anfang traurig, daß da schon eine andere Person stand und er wollte schon weiter gehen. Doch, er blieb stehen, sie sah nicht aus, daß sie ihn stören würde – und wer dort stehen blieb, der konnte nach seinem Gefühl gar nicht stören. Nach ihrem kurzen Verweilen schauten sie sich an. Vier schöne Augen begegneten sich und Emma fragte lächelnd, woran denken SIE immer, wenn Sie hier so stehen bleiben? Michael, eigentlich schüchtern, wußte gar nicht, was er so spontan antworten sollte, aber ihm fielen seine Gedanken von eben ein. An ZUKUNFT AUS ALTEHRWÜRDIGEM und an das Wort JA sagte er – und das gefiel ihr. Das war positiv und schloß Besinnlichkeit und Hoffnung in sich ein, Geschichte und auch Aussicht auf neue Gestaltung.
Als sie gingen, nahmen sie sich beide an die Hand, als wären sie schon lange tief miteinander vertraut, wie eine Selbstverständlichkeit, ein schönes Bild, wie sie so langsam und leicht den Garten verließen und hinter dem Tor verschwanden, schattenlos. Es begann eine wunderbare Liebe, hier hatten sich zwei gleiche Seelen gefunden und sie lebten alles so intensiv aus, nahmen ihre Liebe so genußvoll wahr. Er war viel unterwegs, auf See, und wenn er heimkehrte, war es jedes Mal wie ein Fest.
Doch, ihre Liebe währte nur 7 Jahre. In einem Septembersturm ist sein Schiff in der Biskaya gesunken, alle Fischer auf dem Trawler ertranken. Seitdem hat sie den Job als Gärtnerin übernommen, um so oft wie möglich hier zu sein, bei ihm, an dem Ort, wo eine so wunderbare Liebe begann“...
„Ja, so war das“, sagte der Hausmeister und stopfte mit seinem Pfeifenbesteck die glühende Asche...
So steht sie nun auch heute wieder vor der steinernen Frau und sagt sehr leise vor sich hin: „... so fern bin ich dir gar nicht. Unsere Gedanken sind fest verbunden, denn unsere Seelen hatten sich berührt. Wir haben uns schon vor 23 Jahren hinüber geschwungen, jeder in den Anderen – und dort werden wir wohl ewig bleiben, auch nachdem wir das Weltliche verlassen. Das ist so und wir können gar nichts dagegen tun. Und wunderschön war es, das wollen wir nie vergessen. Mein Alltag wurde schöner – durch dich, und deiner durch mich. Wir hatten uns so viel zu sagen und unsere Zeit wurde niemals langweilig, zwei Gläser, die sich niemals leerten. Freude, auf jedes neue Lebenszeichen, Sorge, geht es dir gut, Träumen - von dem fremden, unbekannten Ort, wo der andere sich gerade befinden mochte, diesen nie gesehenen, doch immer mit abstrakt-konkreter Vorstellung seiner Eigenschaften, aus unendlicher Phantasie geboren und aus der Erfahrung unserer besten Jahre. Bon voyage, bel ami........ Tu m'apportes un sourire sur les lèvres“ *... und ein leichtes Lächeln fliegt über ihr Gesicht, kurz nur.
Ich sehe sie von hinten stehen, vor der Figur aus Stein, die stoisch schweigt. Sie läßt die Schultern fallen, eine innere Anspannung verläßt ihren Körper, aus der Würde des Augenblicks wird nun gelähmte Traurigkeit. Es war, als wolle sie noch einmal Abschied nehmen, von der Liebe ihres Lebens...
... und ich habe bis heute noch nicht gewußt, daß Frühling und Abschied auch zusammen gehören können. Immer wieder neue Erfahrungen...
5.4.2006 © Ole Pauperkotte
* Gute Reise, mein schöner Freund... Du zauberst ein Lächeln auf mein Gesicht.