Es ist der 29. Juli 1919. Auf dem immer noch königlichen Standesamt in Bromberg-Klein Bartelsee heiraten zwei junge Menschen, die Zukunft gemeinsam zu leben, Kinder in die Welt zu setzen, sich einen bescheidenen Wohlstand zu erarbeiten und das ganz private Glück zu finden, ganz so, wie es wohl jedes junge Paar möchte. Niemand hätte ihnen an diesem Tag sagen mögen oder können, was auf diese Familie in den nächsten Jahren wohl zukommen würde. Ihre Geschichte wird exemplarisch für ein ganzes Jahrhundert.
Ein Jahr später. Der Lebensmittelpunkt der jungen Familie hat gewechselt. Sie ist von Bromberg nach Berlin gezogen, besser, sie musste ziehen. Die Deutschen wurden nach dem verlorenen 1.
Weltkrieg aus Westpreußen vertrieben und so mancher siedelte nach Berlin über, wo es Arbeit und mehr oder minder Wohnraum gab, besser allemal, als anderswo. So wurden meine Großeltern Berliner
und am letzten Augusttag des Jahres 1920 kam ihr erster und einziger Sohn, mein Vater, zur Welt.
Sie waren nun zu dritt, lebten in einer ziemlich erbärmlichen Wohnung in der Langen Straße, hinter dem Schlesischen Bahnhof, ein Schmelztiegel von Kriminalität, Pauperismus und beständigen
Klassenkämpfen zwischen Rechten und Linken. Die Gegend war berüchtigt. Sieben Jahre lebten sie dort, mein Vater erzählte mir oft von dieser Zeit, Mahnung an wirklich schlechte Zeiten. Aber, wie
immer, auch hier gab es eine kleine Hierarchie, mein Opa war ein fleißiger Mann und mein Vater war bald das einzige Kind in der Straße, welches ein Fahrrad sein eigen nennen konnte. Mein Opa
hatte es selber aus alten Teilen montiert. Schaut mal, wie stolz er es hält.
Nach sieben Jahren bekamen sie eine für damalige Verhältnisse wundervolle Wohnung in Baumschulenweg, in einer genial angelegten Eisenbahnersiedlung, mit großem, grünen abgeschlossenen Innenhof,
mit Gasherd, Bad, fließend Warmwasser, zwei Zimmer, Balkon, welch Luxus. Mein Großvater war Eisenbahn-Schlosser bei der Reichsbahn und die kümmerte sich damals um ihre Mitarbeiter.
Im gleichen Jahr wurde mein Vater in die "rote Schule" in der Kiefholzstraße eingeschult, wo er seine gesamte Schulzeit absolvierte. So wurden sie Baumschulenweger, so wie auch ich später mein
halbes Leben. Ein schöner Ort, ich denke gerne an ihn zurück, heute leider ziemlich pauperisiert, nicht mehr lebenswert. Wer konnte, zog nach 1990 weg.
So wuchs er in Baumschulenweg heran, schuf sich seine ganz besonderen privaten Stellen, seine Phantasien auszuleben und ging seine Onkels und Tanten besuchen, die inzwischen in Baumschulenweg beschauliche Kleingärten besiedelten. Hier sieht man ihn am Britzer Zweigkanal, an seinem linken Fuß noch die Schienen der Treidelbahn, die damals die Lastkähne vom Ufer aus zog. Ansonsten blieb nur das Staken der Lastkahnbesatzungen. Im Hintergrund die Konturen der Eisenbahnersiedlung in der Südostallee. Der Britzer Zweigkanal war ein beliebtes Badeziel von Jungen und Mädchen, obgleich verboten und dann in den 50er und 60er Jahren total verdreckt.
Zwei seiner Onkels wurden schon früh Segler. Durch sie kam auch mein Vater bereits als Junge zum Segeln und es hat ihn sein Leben nicht mehr losgelassen. Segeln war für ihn das perfekte Glück. Abends mit einem Pfeifchen im Cockpit sitzen, auf den friedlichen See schauen und die Gedanken schon wieder an die nächste Bastelei am Boot. Hier sieht man ihn auf dem Bug einer 10er Rennjolle sitzen, am Arbeitslosenteppich in Friedrichshagen. Im Hintergrund die Bürgerbräu-Brauerei. Es muss so Anfang der 30er Jahre gewesen sein. Eine längere Rückfahrt liegt noch vor ihnen, denn der Heimathafen lag am Zeuthener See und Motoren gab es an solchen Booten früher nur sehr selten. Paddeln war durch die Kanäle angesagt.
Nachdem er die Schule absolviert hatte ging er in Schöneberg in einer Motorenfabrik in die Lehre und lernte Motorenschlosser, damals ein sehr innovativer und nachgefragter Beruf. In seiner Freizeit entdeckte er neben dem Segeln auch die Paddelei und kaufte sich ein Kajak. Mit seinen besten Freunden ging er auf Tour, abends bauten sie sich an verschwiegenen Orten ein Zelt auf, morgens machten sie Kaffee mit einem Petroleumkocher. Von diesem Leben schwärmte er die ganzen späteren Jahre und es gibt sehr viele Fotos mit seinem Kajak und den Freunden. So hat er sich, so gut es ging, aus dem fiesen Jugenddrill der 30er Jahre herausgehalten, so gut es ging eben, ganz konnte man sich ja nicht enthalten, wenn man nicht beruflichen Nachteil nehmen wollte. Wir kennen das ja auch aus der DDR.
Nach Beendigung der Lehre kam bald die Zeit des sog. Kommisses, d.h. er wurde laut Wehrpflicht in die Wehrmacht eingezogen und mußte dort seinen Grundwehrdienst durchmachen. Anschließend ging es wieder in die Arbeit als Motorenschlosser.
Inzwischen waren meine Vorfahren einigermaßen ungeschoren aus der Inflation und aus der Weltwirtschaftskrise gekommen, was heißt schon ungeschoren, sie lebten noch, aber die Ersparnisse waren nach dem 1. Weltkrieg, nach der Inflation und nach der Weltwirtschaftskrise jedesmal hin. Inzwischen war Hitler an die Macht gelangt und das ganze gesellschaftliche Leben hatte sich verändert. Das Private war politisch stark reduziert und jeder Mensch war irgendwie eingebunden, in eine gleichgeschaltete Gesellschaft und eine universelle Überwachung, in Spitzeltum und Blockwartsystem. Die Tyrannen nannten das Volksgemeinschaft.
Und trotzdem gab es einen Alltag und die Menschen versuchten, das Beste draus zu machen. Sie trafen sich, machten Ausflüge in die Natur, in Ausflugsgaststätten und waren, wenn man die Bilder so
sieht, froher Dinge. Links sieht man meine Großeltern, die zweite Person von links ist meine Urgroßmutter.
Mein Großvater (ganz links) starb im Jahre 1938, er wurde nicht einmal 43 Jahre alt. Die erste Tragödie der Familie.
Mein Vater arbeitete nun inzwischen fest bei der Motoren-Union, in der Freizeit unternahm er mit seinen Freunden Ausflüge ins Grüne, ging Segeln und Paddeln. Inzwischen war 1939 der 2. Weltkrieg
ausgebrochen und Polen wurde überfallen. Noch war der Krieg in Berlin nicht spürbar im Alltag, doch nur wenige Jahre später sollte sich das ändern. Mein Vater wurde UK gestellt, weil der
Motorenbau "rüstungswichtig" war und so blieb er noch eine kurze Zeit vor dem Horror des "Heldseins" verschont.
Die Bilder der ersten Kriegsjahre scheinen eine Idylle zu präsentieren.
Hier sieht man meinen Papa (rechts) mit seinem besten Jugendfreund auf Paddeltour. Jede freie Minute waren sie unterwegs. Der Freund fiel im Krieg. Was bleibt, sind ein paar Fotos, die mein Vater immer sehr nachdenklich in die Hand nahm...
Es war ein verhängnisvoller Tag. Irgendwie hat sich mein Vater im Jahre 1943 mit einem Parteibonzen im Betrieb angelegt. Die Folge war: Einberufung an die Front. So wurde auch mein Vater Soldat
und zog an die Ostfront, sich als "Held" zu beweisen.
Ich erspare mir hier weitere soldatische Fotos. Es war, wenn ich die Bemerkungen meines Vaters über seine Kriegserlebnisse erinnere, eine furchtbare Zeit und ich habe ihn immer als einen
entschiedenen Kriegsgegner und Gegner allen Militaristischen erlebt. Er berichtete über absolut menschenfeindliche Befehle, über inkompetente Offiziere, die im größten Schlamassel noch auf
"innere Ordnung" bestanden und darüber, dass jeder einigermaßen denkende Soldat nur noch ein Ziel haben kann: die ganze Sch.... irgendwie überleben und auf das ganze Heldentum tunlichst zu
verzichten.
Und so hat er überlebt, kam 1944 in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er im Sommer 1945 bereits wegen Malaria entlassen wurde. Als er nach langer Odyssee in Berlin ankam, blieb ihm nur noch
der Abschied von seiner Mutter im Krankenhaus, die 2 Tage nach seiner Rückkehr 49-jährig verstarb. Sie hatte ihre ganze Kraft zusammengenommen, ihn noch einmal zu sehen und als er ihr gestand,
dass er im Krieg mit dem Rauchen begonnen hatte, bekam er noch einmal eine mütterliche Backpfeife. Doch er wußte, wie sie gemeint war, mütterliche Sorge um den einzigen Sohn.
Der Nachkriegsalltag begann. Suche nach einem Job, die Wohnung hatte er von seiner Mutter übernommen, Zurechtfinden im Alltag nach dem Horror von Krieg und Gefangenschaft.
Man suchte nun auch wieder das leichte Vergnügen, ging Tanzen und versuchte einen Partner zu finden. Es herrschte ein immenser Frauenüberschuss, die Männer waren ja gefallen oder noch in Gefangenschaft und so traf man sich zu Musik und Tanz unter anderem im "Rio Rina" am Kottbusser Damm. Alkohol gab's damals noch nicht, man trank Alkoholat.
Und hier auch lernte mein Vater meine Mutter kennen. Im Dezember 1948 gingen sie den Bund für's Leben ein.
Im Mai 1951 kam ich dann zur Welt. Auf dem Bild sieht man die glücklichen drei. Mein Vater hatte sich so sehr einen Sohn gewünscht, einen Stammhalter. Das hatte er nun davon. Von nun an war nichts mehr wie vorher.
Sie waren sehr gute Eltern. Ich hatte eine wundervolle Kindheit, wenn man mal die Bedingungen der Nachkriegszeit betrachtet. Es war zwar alles knapp, aber so richtigen Mangel haben wir eigentlich nicht gespürt. Die Grenze zu Westberlin war ja noch offen.
Mitte der fünfziger Jahre trat wieder Normalität ins Leben ein. Ich erinnere mich der Ausflüge ins Grüne, die wir an den Wochenenden immer machten. Wir fuhren nach Schmetterlingshorst, an die Müggelspree zum Arbeitslosenteppich, nach Müggelheim oder an die Bammelecke, wie hier auf dem Foto. Hier entstand auch der Wunsch, dass wir uns ein eigenes Segelboot kaufen wollten, eine kleine Jolle, mehr konnte man sich als Arbeiter damals nicht leisten.
Das Bild habe ich immer gemocht. Wegen des Plans zum Segeln, aber auch, weil es eine schöne innige Beziehung zwischen meinem Vater und mir darstellt.
Endlich war sie da, unsere O-Jolle. Ein bisschen Geld mussten sich meine Eltern noch bei einem Onkel pumpen, aber dann haben wir sie besichtigt und gekauft. Der Verein, wo wir sie kauften, wollte
keine "Fremden", so packten wir alles zusammen und segelten in Richtung Grünau. Zwischendurch fing es heftig an zu regnen, wir machten ganz zufällig an der Insel fest, die später unsere zweite
Heimat werden sollte.
Eine völlig neue Zeit brach für uns an. Jede freie Minute verbrachten wir auf dem Wasser, wie schliefen im Boot, kauften Trainingsanzüge, Luftmatratzen und Schlafsäcke, einen Petroleumkocher und
Campingkochgeschirr aus Alu. Einfach und bescheiden - und es waren unsere schönsten Jahre.
Im Jahre 1959 starb meine liebe Oma mütterlicherseits. Sie wohnte in Westberlin und hinterließ uns ein kleines Sparguthaben, allerdings in DM. Schon war die Idee geboren, die O-Jolle zu verkaufen
und einen 15er Jollenkreuzer anzuschaffen, für damalige Zeiten ein Quantensprung. So kauften wir am Teupitzer See einen sehr schönen Jollenkreuzer. Die Überführung zur Dahme war eine Odyssee,
denn der Rotbartmotor streikte laufend. Irgendwie kamen wir aber doch an und nun begannen wundervolle Urlaube am Scharmützelsee. Schon die Fahrten dorthin waren ein Genuss.
Abends saß mein Papa immer verträumt auf seinem Schiff und rauchte sein Pfeifchen.
In den nun folgenden 60er Jahren ging es weiter aufwärts mit unserer Familie. Die Verdienste wurden besser, meine Mutter hatte einen guten Job gefunden und ich wurde langsam flügge, ich wurde mein eigener Segler, es kamen die Beatles und die Stones, quasi eine Kulturrevolution auch in Ostdeutschland und mein Vater war stets bedacht, mich in kurzen Abständen zum Friseur zu schicken, damit "die Nachbarn nicht reden". Ich war damals stinksauer und wir stritten viel um Dinge, die aus heutiger Sicht banal erscheinen.
Die 60er vergingen und mein Vater erkrankte im späten Jahr 1969 schwer. Krebs wurde ihm diagnostiziert. Im März 1970 mußte er in die Charite, wo er viel zu früh verstarb, er wurde nicht mal 50 Jahre alt. Ich sehe ihn noch losziehen, ein letztes Mal, ganz allein, durch frühes Schneetreiben, mit seinem blauen Anorak und seiner grauen Schiebermütze.
Was bleibt, ist eine ganz tiefe, liebevolle Erinnerung an meinen Papa. Er hat mir als Kind alles so schön und geduldig erklärt, von ihm habe ich ganz viel Lebensweisheit mit auf den Weg bekommen,
die man in keinem noch so klugen Buch findet. Und ich habe seine Ratschläge befolgt, bin immer gut dabei gefahren, besonders unter den Bedingungen der DDR.
Danke, Papa! Alle guten Wünsche zu deinem 100. Geburtstag. Ich werde immer lieb an dich denken, bis auch mich der Schnitter holt. Die Bilder der Familie aufzubewahren, habe ich meine Kinder
innigst gebeten.
Berlin, 31. August 2020
Es ist der 31. August 2020, 11:40 Uhr. Wir wollten es uns natürlich nicht nehmen lassen, diesen bedeutenden Tag mit einer würdigen Geste zu ehren. Mit dem Radl waren wir nach Friedrichshagen gefahren und nun stehen wir am Arbeitslosenteppich, dort, wo wir in den 50er Jahren immer zum Baden waren und wo wir Kinder und Jugendlichen im Jahre 1966 die Spartakiade im Segeln absolvierten. Hier haben wir damals in Armeezelten gecampt, hier am Strand lagen unsere Boote. Nur ist das Ufer inzwischen ziemlich zugewachsen. Aber der Blick rüber auf die Brauerei ist ein untrügliches Zeichen - hier ist die Stelle.
So vereinen sich Geschichte und Gegenwart. Heute stehen wir als betagte Personen an diesem Ufer und gedenken einer wirklich schönen Kindheit. Ich halte eine leise Rede, bedanke mich bei meinen Eltern und denke auch an die ganzen Vorfahren, ihre Eltern, Großeltern, erwähne ihr beschwerliches und in den meisten Fällen zu kurzes Leben. Mein Urgroßvater Dachdecker, mit 40 abgestürzt, mein Opa Eisenbahnschlosser mit 42 Jahren gestorben, meine Oma, mit 49, mein Vater auch mit 49 Jahren.
Und wie in dem Film "Paul und Paula" sehe ich sie alle auf einem Lastkahn vereinigt und sie winken mir freudig zu und wünschen mir ein paar längere Jahre, als sie es hatten...
Martha hat einen kleinen Strauß gebunden, zwei kleine Hölzer gesammelt, die symbolisch für die O-Jolle und den Jollenkreuzer meiner Eltern stehen sollen. Nun soll alles als 100er Jubiläumsgruß auf die Wasserreise gehen. Der Strauß und die beiden Boote gehen zu Wasser und treiben mit dem Wind gen Müggelsee. Farewell, liebe Kindheitsbilder. Und vielen Dank an alle Vorfahren, die mein Leben ermöglichten...