... Wir stehen auf einem Hügel und schauen aufs Meer.
Nichts – nur eine Barkasse naht.
Wir fühlen, es wird nun Herbst...
Nun ist wieder eine Woche vorüber und sie hat uns so viele Ereignisse gebracht. Auf meiner Arbeit weht jetzt wieder „ein anderer Wind“ und der Herbst ist wieder eine Woche näher gerückt. Hier im Norden, wo ich jetzt angekommen, fliegen schon die ersten Kraniche ein und sammeln sich auf weiten, abgeernteten Feldern, über die der Wind jetzt schon kühler weht, in den höheren Lagen der lieblich rund geformten Felderlandschaft oft mit einem kleinen fönartigen warmen Hauch durchmischt, der bald aber immer wieder durch eine stetiger werdende Kühle dominiert wird. In den wie verloren in die Landschaft gesetzten Baumgruppen haben jetzt die Krähen die Herrschaft übernommen. In großen Schwärmen leben sie ihren zänkischen Tag und vergeblich sucht mein Auge Reste von Leichtigkeit und Verspieltheit des eben noch frühen Sommers.
War nicht eben noch, bevor ich in den Urlaub fuhr die Fee geboren an dem Stil der Seerosen und ist mit den Blasen, die der große Fisch „Schnakan Askajor“ im Schwarzen See nahe dem Grabe des Finnischen Kriegers absonderte, in die Freiheit entstiegen, Gutes zu tun für alle , die zu den Sonnensuchern zählen. Wo also ist sie hin, die Zeit des doch eigentlich nicht so kurzen Übergangs von der Jugend zur Weisheit, die Zeit des bewußten Erlebens? Nur noch Krähen? Ist das eigentliche Erwachsensein nur so kurz wie ein Urlaub?
Ich will es noch nicht glauben und gehe nun auf einen der lieblich geformten Hügel der Endmoränenlandschaft. Hier nun erschließt sich mir die ganze Weite der Freiheit, ein Blick über das Meer bis zum Horizont, der heute hinter einem chromig bis unwirklich rotem Schleier ruht, dort am Ende eines nicht glaubhaft ruhigen Wassers, welchem der Wind heute scheinbar nichts anhaben will. Fast träge zieht sich eine gelbgraue Faserung über die Wasseroberfläche, nur unwillig ein gestern noch windloses Spiegeln unterbindend. Hier würden auch die Kraniche nicht auf Dauer verweilen wollen, denn es scheint die ganze Endlichkeit in einem Blick gefangen.
Wo also finde ich die Hoffnung? Kein Fischer, der mit seinem Boot an den immer leerer werdenden Reusen zieht? Kein Bauer, der wenigstens nach seinem Acker sieht? Dort hinten, ein kleines Schiff wenigstens, eine alte Barkasse ist es, die sich schnell nähert und bald sind ihre Konturen gut erkennbar. Eine geraden Steven hat sie, so wie man die Schiffe in den dreißiger Jahren baute und an der Oberkante gewölbte Fenster, schnörkellos sonst und ich erkenne jetzt ihren Namen: Undine. Ein schöner Name, denke ich und erinnere mich an ein großes Plakat der Komischen Oper Berlin, die „Undine“ einst als Ballett inszenierte und, welches viele Jahre, die Unterschriften meiner besten Kommilitonen tragend, in meiner ersten Wohnung hing, eine Werner-Klemke-Zeichnung noch. Periodisch tuffelt aus dem Schornstein der schwarze Qualm des Dieselmotors, der so lebendig und nun, beim Nähern, auch lauter werdend sein Werk tut. Hinter matten, grauen Scheiben der Steuermann, hageres Gesicht, leicht unrasiert, dunkelblauer Marinepullover, speckige Mütze, ein alter „Elbsegler“ wohl, Jahre alt, so wie ihn die maritimen Kerle lieben. Kaum kriegst du einen dazu, solch eine Mütze gegen eine neue auszutauschen.
In die kleine Bucht am Sandhaken will sie, dort gibt es den kleinen Steg, von wo früher die reichen Badegäste zu den Fähren gerudert wurden, als es hier noch keinen Hafen gab. Der Steg ist Residuum einer untergegangenen Welt, die Welt des alten Europa, mehr als nur Prolog der globalisierten Welt, ein ganzes Leben für mehrere Generationen. Schönes Wort: die Welt von gestern. Es war ein Titel von Stefan Zweig, ein wunderbares Buch, welches vom damaligen Untergang der aristokratischen Welt mit ihrer Kaffeehausgemütlichkeit erzählt, mehr noch aber, als dies. So, wie auch Joseph Roth es in seinem „Radetzkymarsch“ oder Franz Werfel im „Tod des Kleinbürgers“ beschrieb. Sicher, es gab immer wieder solche Umbruchzeiten und die Menschen haben jedesmalig darunter gelitten. Ich frage mich nur immer, muß der heutige so stattfinden oder ist alles ein gigantischer Fake. Wir werden es sehen, wir sind ja dabei.
Schon ist unsere Barkasse am Steg, sie will anlegen, tausendmal geübtes Manöver, fast grazil sieht es aus. Zwei schlanke Männer tun ihre Arbeit in Bewegungen von Leichtigkeit, kraftvoll auch, doch dominiert eher das Geschmeidige. Kein Mensch wartet auf dem Steg, wäre doch jetzt eine Ausfahrt, eine Reise in eine farblich so bizarre Welt eine wirklich interessante Angelegenheit. Hinein in das Chrom und das Rot, fast lila ist es jetzt und dann meine geliebte St. Andreashöhe vom Meer aus betrachten. Doch der Steg ist weit, ich werde es nicht schaffen und auch ist es ja keine Fähre oder ein Linienschiff. Privaten Zwecken scheinen ihre Fahrten zu dienen. Fast konspirativ scheint das Anlegemanöver.
Nur zwei Personen steigen aus, zwei Männer in teurer Garderobe, die ihnen aber auch nicht steht, sie muten an wie moderne Gamaschencolombos aus „Manche mögens heiß“. Man erkennt sie gleich, diese Neureichen. Der feine Zwirn scheint sich zu sträuben, sie zu bedecken und an ihren Körperbewegungen erkennt man deutlich den Habitus ehemaliger Underdogs, alkohollos schwankender Gang, mit abgespreizten Armen und schaukelnden Schultern, der Gang von Huckern, die ihr Leben lang alte Kachelöfen abtrugen. Kein Wort haben sie dem Steuermann gesagt. Seine Leistung schien selbstverständlich. Dieser scheint, zwar ohne Eile, aber dennoch wegkommen zu wollen. Irgendwie gehört die Barkasse hier nicht dauerhaft her und auch ihre Mannschaft nicht. Es scheinen sich gerade Redliche und ihr Gegenteil getrennt zu haben. Seemänner und Kaufleute, Sonnensucher und Vertragsschließer, Hasen und Jäger, Bauern und Bonzen, Arbeitnehmer und Finanzbeamte. Wie im ganzen Leben ist’s, durch alle Verhältnisse geht der Riß der Teilung in diese und jene, in Hinzes und Kunzes.
Ein Auto mit Fahrer wartet. Sie steigen grußlos ein, die Fahrt beginnt. Hinter den Häusern der kleinen Siedlung am Steg verschwindet das Auto lautlos. Wieder Chrom und Krähengezänk...
© Ole Pauperkotte 27.08.2004