... Wir schauen uns um bei den Sonnensuchern und den Vertragsschließern, zwei so gegensätzlichen Kulturen, die das Zusammenleben gelernt haben und es täglich
aufs Neue tun müssen.
Ich habe eine schöne Landschaft vor mir gesehen und es begann, ein Film abzulaufen, von dem ich dir berichten möchte, er handelt von einer unsichtbaren Brücke, die die Seelen vereint. Willst du mich begleiten?
Ich sehe diese Brücke über ein schmales, mir unbekanntes Wasser, es ist nur ein schmaler Steig, sie ist stark gewölbt, als architektonisch-stabile Statik, weil keine Pfeiler in das Wasser ragen, denn die Brücke soll sich selbst tragen, so, wie es bei geistigen Brücken immer der Fall sein sollte. Sie ist nicht für Autos gemacht, sondern nur für naturbewegte Menschen und insonderheit für ihre Gedanken. Beide Ufer unterscheiden sich, es scheinen verschiedene Welten, verschiedene Kulturen zu sein, die die Brücke verbindet.
Auf der einen Seite sitzen in zäunig fest umrissenen Arealen ernst schauende Menschen an Tischen, mit großen Landkarten, Urkunden, Verträgen und riesigen Stempeln und reden überaus sachlich-streng miteinander. Bisweilen steht einer von ihnen auf und streckt dem anderen die Hand entgegen. Ein Vertrag kam zustande. Dies ist die Kultur der „Vertragsschließer“. Die dort Lebenden nehmen ihre Verträge sehr ernst, sie sind das Wichtigste in ihrem Leben. Alles, was mit Lebensäußerung zu tun hat, wird in Formen von Kontrakten gegossen, selbst die Liebe. Auch was nach dem Leben kommt, ist vertraglich geregelt, jedenfalls der Anfang vom Ende, mehr geht noch nicht, obgleich es wünschenswert wäre.
Auf der anderen Seite der Brücke tanzen kleine Mädchen in weißen Kleidern und Blumenkränzen im Haar einen Reigen. Hier geht es nicht so ernst zu, immer wieder tönt befreites Lachen über die
kleeübersäte Wiese und widerhallt von der Birkengruppe des Waldrandes. Man merkt es schnell, die Menschen hier haben eine andere Art gefunden, ihr Zusammenleben zu regeln. Ihre Symbolik ist die
Fröhlichkeit und die Leichtigkeit des Seins. Das sind die „Sonnensucher“, die Vertragsschließer nennen sie verächtlich „Tagediebe“, ihre typisch-bornierte Reflektion anderer Lebensprojektionen.
Brauchen denn diese keine Verträge zum Leben? Unvorstellbar. Und dann diese ewige Fröhlichkeit. Wenn die übergriffe - auf die unteren Kasten der Vertragsschließer. Wie aber ist das Leben der
Sonnensucher geregelt? Das Wesen ihres Zusammenlebens ist die gleichberechtigte Gemeinschaftlichkeit. Es gibt kein oben und kein unten, das Motto der Verfügung über Ressourcen ist „Alle oder
Keiner“ - diesen Artikel hat ihnen noch Gundi Gundermann kurz vor seinem Tod in ihre geistige Verfassung gesungen. Da keiner Sonderrechte begründen will, weil er des anderen Freund ist, sind
einfach keine Verträge vonnöten und das Geheimnis des Zusammenlebens ist „Liebe und Vertrauen“. Und keiner hat es bislang enttäuscht. Weil er es nicht will und weil er es nicht muß, weil eben die
Verhältnisse ihn nicht dazu zwingen. Sichtbarer Ausdruck der Lebensfreude der Sonnensucher ist der befreite Tanz der Mädchen auf der Wiese an der Brücke. So hat eben jede Kultur ihre eigene
Symbolik.
Da der Wohlstand der Vertragsschließer höher ist, als der der Sonnensucher, schauen erstere auch verächtlich auf jene herab. Für sie gilt nur der Maßstab, den sie sich selbst geschaffen und alle Welt soll diesen annehmen, andere Ziele sind undenkbar, unerwünscht, suspekt, ja gelten als feindlich. Einige überlegen schon, ob nicht ein Krieg das geeignete Mittel wäre, die Sonnensucher auf den „richtigen Weg zu bringen“. Ein Grund ist ja immer schnell gefunden. In letzter Zeit hat sich das Argument verfestigt, daß das Lachen der Mädchen beim Tanzen die elektronischen Signale ihrer Boden-Luft-Raketen stört, das Lachen somit als gefährliche Waffe anzusehen ist und schon treten ihre Falken mit der Forderung auf, den Sonnensuchern das Lachen zu verbieten. Es wurde eine Kommission geschaffen, die sich eigens damit befaßt, ein logistisches Konzept auszuarbeiten, wie „unabhängige“ Lachinspektoren in das Nachbarland geschickt werden könnten.
Dem Wasser unter der Brücke indes macht dies alles nichts aus. Es fließt gemächlich zwischen uferzonenbesetzten Seerosen, die sich ohne Mühe gegen die geringe Strömung mit ihrer Wurzel im
sumpfigen Flussboden klammern. Östlich der Brücke sieht man eine Windung des Flüßleins, in deren Außenufer noch dichter Schilfbesatz steht. Dessen Halme biegen sich gern nachgiebig in einem
leichten nachmittäglichen Wind, welcher ihnen wirklich nichts anhaben will, nur ein zartes Streicheln wird aus beider Zusammentreffen. Stoisch werfen dichte Erlengruppen ihre tiefen Schatten auf
das ganze Uferbild. Ach, wir Menschen, solch ein schönes Bild in seiner scheinbar ehernen Ruhe und schon wieder möchte ich sehen, wie’s hinter der Biegung aussieht. Im Westen steht die Sonne
jetzt schon tiefer, müde fast zwängt sie sich durch dichten Holunder, kurz blitzendes Blenden zwischen bisweilen nicht so dicht gewachsenem Buschwerk. Auf saurem Boden vermessen zwei Männer mit
breitkrempigen Strohhüten und hölzernen Klaftermaßen die Grenzen ihrer Felder und ihre Körpersprache signalisiert Streit. Hier wurde ein Vertrag vermutlich nicht erfüllt...
Zweimal in der Woche fährt ein altes, nicht sehr großes Dampfschiff, von Osten kommend. Da die Route beide Territorien durchquert, gibt es auch zwei verschiedene Fahrtarife: auf der Seite der Sonnensucher muß der Fahrgast eine schöne Begebenheit erzählen bzw. von einer guten eigenen Tat berichten oder sie versprechen, bei den Vertragsschließern kostet die Fahrt 20,- EUR.
Die Vertragsschließer wollten es schon ausrangieren, gegen ein modernes ersetzen, jedoch scheiterte dies am Votum der Sonnensucher, weil auf ihm ihre Ahnen als gute Geister des Flusses wohnen, die seit Generationen ihr Glück beschützen.... Für sie ist das Fahren mit ihm Bewegung und Prozession zugleich, für die Vertragsschließer zählt in erster Linie die Umschlagsgeschwindigkeit von Gütern und Personen. Ja, aus dieser Sicht muß gewiß ein neues Schiff her... Wie schön, daß wir noch nicht verlernt haben, in Alternativen zu träumen....
© Ole Pauperkotte / Februar 2004