Der alte Buchladen

... Kommst du mit in die alte Buchhandlung am Winterfeldtplatz zu Herrn Schmähl?

Es gab ihn wirklich. Es war im Jahr 1921 und viele Geschichten könnte er uns erzählen, lebte er noch. So machen wir uns also auf den Weg zu ihm, seine Geschichten zu hören...


Die Buchhandlung Schmähl am Winterfeldtplatz

 

Kommst du mit? Wir gehen gemeinsam in das kleine, verwunschene, ganz verwinkelte Antiquariat am Winterfeldplatz gleich in der Nähe der Kirche? Du findest beim Stöbern bestimmt auch ein paar Kostbarkeiten für dich... Würdest du mitkommen wollen? Es hat so viele kleine Stübchen, voll mit Regalen bis unter die Decke und man könnte Stunden dort schauen...

 

Einen kleinen Bildband fand ich, er ist wie eine Kostbarkeit für mich, ganz schlicht, in zarte Jugendstilelemente gerahmte Gedichte und zwischen den alten, matten Fotos ist Seidenpapier, damit sie geschützt sind. Es ist wie eine Reise in eine andere Welt, schlägst du es auf... Willst du es dir auch mal ansehen? Schau nur, wie es gebunden ist, ähnlich, wie unsere alten dicken Schuldiarien, in marmoriertes Papier und den Einband ziert ein schlichtes Goldornament des Verlages „Hermann Wiechmann“. Auf der Innenseite findest du ganz versteckt einen Stempel des Buchhändlers in der Winterfeldstrasse 12.

 

Ja, genau am Winterfeldtplatz gelegen, wo an einem milden Frühsommerabend im Mai 1921 eine hübsche junge Frau in das winzige Bücherstübchen tritt, wo auch noch alte Drucke und Theaterkarten angeboten werden. Es riecht nach alten Folianten, in Ehren gealtertem Papier und seiner ewig glimmenden Honduraszigarre...

 

Sie hat noch keine feste Absicht, was sie diesen Tag für ihren Verlobten, einen jungen Lehrer an einem Knabengymnasium, erstehen will. Sie kennen sich nämlich auf den Tag genau 666 Tage und aus diesem lustigen Anlaß, will sie ihn mit einem Büchlein überraschen, welches ihn noch lange an diesen Tag erinnern soll.

 

Der alte Bücherwurm Herr Schmähl, hat sie schon oft bedient und ist gleich zur Stelle, um ihr ein paar Neuerscheinungen vorzustellen. So auch dieses kleine Bändchen "Mutter Erde" 2. Sammlung, Stimmungsbilder aus der Natur. Ja, er erinnert sich, ihr schon den ersten Band im vergangenen Jahr verkauft zu haben. Fräulein Ida ist selbst begeistert, hat sie noch die schönen Erinnerungen des Erstlingswerkes vor Augen...

 

Links kannst du übrigens das Büchlein sehen und die Bilder, es war eine ganz andere Art zu fotographieren. Kannst du dich noch an deine Kindheit erinnern? So hat man früher nach der Ernte die Garben aufgehäuft?

 

Ach, die reizvollen Stimmungsbilder wechselnder Jahreszeiten und die neuerschienenen Gedichte ihrer Lieblingsautoren, das sind sie seit ihrer Bekanntschaft mit Matthias geworden...

 

So verlässt sie in Bälde, flinken Schrittes, das winzige Lädchen, um sich zu ihrer Verabredung an der Krummen Lake, in das winzige Cafe „Liebeslust“ zu eilen... Kennst du es auch? Wenn du dich eilst, kannst du die beiden noch vertraut und dennoch mit roten Köpfen beieinander sitzen sehn, träumen und Pläne schmieden...

 

Später, als die Dämmerung leis’ aufzieht und dem sanften Abend Platz macht... findest du die zwei eng aneinander gelehnt am Wasser sitzen. Sei still und komm nur vorsichtig näher... Dann kannst du hören, wie er ihr mit leiser Stimme Gedichte aus dem Büchlein vorträgt und sie verträumt die Augen geschlossen hat. Ganz sacht plätschern letzte, nun auch schon müde Wellen und der gute alte Silbermond, noch matt und blaß durchsichtig, lauscht andächtig den geschickten Wendungen melancholischer Sommernachtsdichtung... Nacht zieht den Vorhang zu.

 

Keiner soll dieses Glück jetzt stören... Und im Geiste entferne auch ich mich wieder aus der Szene, sehr leise jedoch, die beiden nicht in ihrem zarten Werke zu behindern...

 

Ich bin jetzt auch gedanklich wieder zurück in dem ehrwürdigen alten Laden. Was kann es Schöneres geben, schon der Geruch ist betörend, das alte Papier und der Staub. Manchmal würde ich dort sitzen bleiben und gleich mit dem Lesen beginnen. Da wurde offenbar ein kleines Prachtexemplar gefunden aus einer längst versunkenen Zeit. Glückliche Menschen, ich kenne solche Bücher noch aus meiner Kindheit, mit dem eingelegten Seidenpapier, die Bilder zu schonen.

 

Schon sehe ich die alten Bilder vor mir, die Welt sah anders aus, man sieht es an den Details. Vieles ist so anders geworden. An stillebigen Bildern spürt man deutlich die Rationalität und Unrast unserer Zeit. Die absolute Beschränkung auf die Kostenseite unseres Lebens. So sind auch wir Kostenfaktoren, lästig und am liebsten würde man uns abschaffen. Auch die Art zu fotografieren war ja damals anders und auch die Art, Fotos zu drucken. Colorbilder gab es ja damals noch nicht und trotzdem, vielleicht auch gerade deshalb hatten diese Bilder ihre so eigentümliche Stimmung. Ach, ich liebe sie die alte Welt. In meinen Knochen bin ich vielleicht ein Konservativer, liebe das Bodenständige, den Umgang mit dem Vertrauten. Die Rastlosigkeit der Neoliberalen, das Aufspüren immer neuer unkultivierter Nischen, was ja letztlich nur Restvermarktung heißt, liegt mir überhaupt nicht. Bin ich also für die Globalisierung verloren? Wen wird’s interessieren?

 

Ja und nun sehe ich auch ganz deutlich die alte Buchhandlung mit dem Buchhändler Herrn Schmähl, dem Bücherwurm, der immer alle Neuzugänge für seine Lieblingskundin sammelt. Einen Moment brauchte ich, die zeitliche Wandlung zu vollziehen. Und ich schlüpfe in das Jahr 1921. Die Metamorphose geschieht in einem Bus, dem ich am Winterfeldplatz entsteige. Ganz anders sehe ich aus, enge, unpraktische Kleidung und auf dem Kopf habe ich einen Kreissägestrohhut. Der Busschaffner sieht mich streng an, als hätte ich etwas Verbotenes begangen. Dies ist meine erste Begegnung mit den Autoritäten der Vergangenheit. Hätte ich nicht meine liberale Lebenserfahrung, würde ich wahrscheinlich jetzt zu Stein erstarren.

 

Doch ist dies jetzt nicht wichtig. Ich will in meinen Buchladen, wo ich eine Verabredung habe. Herr Schmähl ist ein Mann von anderer Natur. Im Unterschied zu dem Schaffner, begreift er sich nicht als eine Amtsperson, sondern als Bildungsbürger, der sich stets über Kundschaft freut, nicht nur ein Geschäft zu machen, sondern gleichgesinnten Bibliophilen etwas Gutes zu tun. Hier ist noch Erwerb und Bedürfnisbefriedigung ehrlich vereint, fehlt ganz die heute so übliche Absicht des unbedingten Umsatzes.

 

Gerade hat eine offenbar verarmte Frau aus Not eine kleine Hesse-Kollektion verkaufen müssen. Sie war sehr traurig darüber, es ist eine sehr schöne Ausgabe und sie hatte sie immer geliebt und zu besonders schönen Stunden, an den stillen Nachmittagen, wenn sie ihr Tageswerk vollbracht, sich eines von der Sammlung genommen und – manchmal sogar im Stehen schon in die Texte versunken – seine Geschichten gelesen. Gebeten hatte sie, ob es möglich wäre, einen Käufer zu finden, der der Sammlung würdig wäre. Und nun schaut mich der gute Mann so fragend an, mit seinen kleinen, etwas traurigen Augen, durch eine uralte Nickelbrille, von der man zu meinen vermochte, daß er sie schon seit seiner Schulzeit trüge.

 

Was also soll ich tun? Ich habe ja jetzt eine Verantwortung vor der Kulturgeschichte. Trotz auch knapper Kasse kaufe ich die Sammlung, die aus sechs Bänden besteht. Ich schlage wahllos Band III auf. „In der alten Sonne“ sehe ich, diese wunderbare Geschichte von dem Haus der Veteranen in sengend heißer Augustsonne. Oder „Narziß und Goldmund“, diese wunderbare Geschichte von den verschiedenen Talenten, die in uns stecken, von dem schönen Lebensfrohen und dem ernsten Geistigen und der Wissenschaft Zugewandten. „Peter Camendzind“ und „Knulp“, die Geschichte, des schönen Landstreichers, vielleicht eine Vorgestalt des Goldmund. Oh ja, nun versinke ich in noch fernere Welten und denke an die indische Miniatur. Und egal ist mir, ob ich hier noch einmal auftauchen werde – in die Wirklichkeit. Wozu auch, wenn es solche Orte gibt.

 

Neue Kunden betreten den Raum, zwei Damen mit dem Habitus von Gymnasiallehrerinnen an einer höheren Töchterschule. Ihnen fehlt so ganz die Lockerheit von Bildungsbürgern. Sie stammen noch aus der wilhelminischen Ära, wo es galt, den Gebärmaschinen der preußischen Junkerkaste ein Mindestmaß an Bildung, mehr noch aber Disziplin und die Fähigkeit zur Selbstaufgabe beizubringen. Gut, nun verlasse ich den schönen Laden mit etwas weniger Wehmut. Das Geschäft mit Herrn Schmähl ist getan. Ein leichtes Lächeln fliegt über sein Gesicht, er scheint an die nette Vorbesitzerin zu denken. Ich stecke vorsichtig die nunmehr meinen Bücher in meine alte Aktentasche, auch sie hatte die Metamorphose ins Jahr 1921 mitgemacht grüße leise - und wie immer mit einem Lächeln – ehe ich den schönen Laden verlasse. Die beiden Damen grüßen nur nickend, ohne eine Bewegung im Gesicht. Draußen ist es sehr hell...

 

 

© Ole Pauperkotte / Martha Lenz