Über meinem Schreibtisch hängt ein uraltes Plakat aus der DDR-Zeit. Es ist ein Druck eines Bildes von Otto Nagel „Panorama der Friedrichsgracht“. Ich habe
es in den frühen 80ern auf dem Weihnachtsmarkt an der Jannowitzbrücke gekauft. Ich liebe es wegen seiner melancholischen Stimmung, mehr aber noch deshalb, weil es mich zu schweren Zeiten, als ich
meine Doktorarbeit schrieb und mir manchmal schier nichts einfallen wollte, irgendwie immer zu einer Idee verhalf. Ich habe es lange betrachtet, dabei gegrübelt und dann kamen mir die Gedanken.
Es wurde zwischen 1942 und 1954 gemalt und ich glaube, die Gegend dort sah Mitte der 80er Jahre immer noch so ähnlich aus, wie auf dem Bild.
Katharina am Telefon. Nachdem das Alltägliche gesagt ist, beschließen wir, uns wieder einmal persönlich sehen. Wir verabreden uns, wählen aber diesmal keine Kneipe und kein Cafe. Die Woche war insgesamt nicht so erquicklich und wir haben beide eine unbändige Sehnsucht nach befreiender Luft. Wir kommen überein, es sollte aber ein anderer Ort sein, als jene, in denen wir wohnen. Du fragst: wo? Ich sage, laß uns am Bahnhof Jannowitzbrücke treffen, so gegen 20:00 Uhr. Du: Warum dort? Ich: ist doch ein Anfang, ich weiß schon, was wir tun werden. Ich entführe Dich in die Vergangenheit und wir sind noch ganz jung, ich bin ein junger Assistent an der Humboldt-Uni und Du bist die schöne Katharina aus dem Fernstudium, machst gerade den Kurs Volkswirtschaftslehre und hast das Glück, es bei Ole zu tun. Und alles, was die Wessis uns kaputt gemacht haben, gibt es für 4 Stunden noch einmal und danach müssen wir wieder auftauchen in die Wirklichkeit. Deshalb: Komm nicht so spät, es wäre so schad’ um die Zeit. Etwas mehr als einen kleinen Moment ist Stille am Telefon, hallo, bist Du noch da..., äh ja, na klar, das sind doch tolle Aussichten, ich komme auf gar keinen Fall zu spät. Bis dann!!!
Ich kenne die Halle des Bahnhofs Jannowitzbrücke seit Jahrzehnten. Oft habe ich mich dort nicht verabredet, aber eben manchmal, vielleicht, wenn es nicht anders ging, man hat ja nie Zeit und es gab in der Nähe der Station auch einige interessante Treffpunkte. Kennst Du noch das Haus der jungen Talente? Die Bahnhofshalle ist heute besonders zugig. Seit Tagen regnet es, ich habe die Sonne schon lange nicht mehr gesehen. Es ist so ein feiner Sprühregen, der alles auf der Welt in einen grauen Schleier einhüllt. Und ich weiß jetzt, warum die Menschen das Neonlicht erfunden haben.
Wenn man so einige Zeit in einer zu übersichtlichen Bahnhofshalle wartet, wird man beobachtet, von Reisenden, die sie einfach nur passieren und ganz normale Tagesgeschäfte betreiben, mehr aber
noch von solchen, die ebenso warten. Fast argwöhnisch fixieren sie mich, als wäre man mit derselben Frau verabredet und daher Konkurrenz. Es wäre aber auch zu einfach für die Weibsperson: gleich
mehrere zum ersten Date bestellen und gleich auf den vermeintlich Angenehmsten zugehen. Vielleicht hat die heutige Zeit auch schon die ersten Treffen rationalisiert. Ich habe mich seit
Jahrzehnten nicht mehr in dieses Geschäft gemischt und bin unwissend, wie ein vierzehnjähriger Knabe.
Das Neonlicht flackert, es kommt mir irgendwie billig vor, wie für arme Schichten gemacht, die ganze Halle ist so, und während ich im periodisch wiederkehrenden Zug der Bahnhofshalle darüber
nachdenke, bemerke ich einen Schatten neben mir. Oder spüre ich eigentlich mehr einen Duft? Egal, ich drehe mich um und Du stehst neben mir, hast die Augen sehr weit geöffnet, als wolltest mit
ihnen eine mädchenhaft-unsichere Frage stellen und Dein Mund lächelt sehr warm, es sind schöne Lippen, scharf gezeichnet und Du hast einen sehr dunklen Lippenstift genommen und ich mag das. Ich
habe gar keine Angst, etwas Falsches zu sagen, als ich diese zwei Dinge an Dir wahrnehme und das erste, was ich sage, ist: „ich liebe diese Halle“. Warum sage ich das? Vielleicht, weil Du mich so
positiv überrascht hast. Noch eben habe ich sie nicht gemocht. So ist es immer, es liegt an den Menschen und an den Stimmungen, wie man die Welt erfaßt. Vielleicht ist die Umwelt viel
subjektiver, als wir uns dies vorstellen können. Oder, unsere Träume bestimmen uns mehr, als wir denken. Ganz aus der Situation heraus, lache ich zurück, ich glaube, ich kann das und es ist echt
und ich nehme Deine Schultern und wir drücken uns Wange an Wange. Ich sage: Guten Tag, ich bin Ole und ich will Dir „Ach Du falsche Schöne“ vorspielen. Du lachst und sagst, wenn Du es hier sofort
in der Halle tust, darfst Du mich heiraten. Ich: okay, gehen wir erst einmal ins Freie. Du: sehr charmant.
Wir gehen über die Spreebrücke und auf einmal wird es sehr grau und man sieht nichts mehr. Aus dem Grau taucht ein Wolga-Taxi auf und der Fahrer hat eine ebenso graue Taxifahreruniform an. Nicht lange, wir stehen vor der Kneipe „Marinehaus“. Jetzt wissen wir, wo wir sind, wir haben den Zeitsprung geschafft. Von weitem sehen wir im Schleier das Stadthaus, auf dem eine DDR-Fahne weht. Und es riecht anders, nach verbranntem Öl riecht es, wir befinden uns in der Welt der Zweitakter. Um ganz sicher zu sein steuern wir die Rungestraße an: Oh ja, Parteihochschule. Jetzt wissen wir es genau. Wir sind rübergekommen.
Wir spüren den Sprühregen kaum, nur im Gesicht wird es ziemlich kühl. Du siehst ganz anders aus, als beim ersten Mal. Da kamst Du mir vor, wie jemand Wichtiges, so etwas wie ein Notar, der jemand anderem etwas ganz Wichtiges mitzuteilen hat. HEUTE bist Du viel mehr Frau und viel anziehender, ich merke das. Und Du lächelst, auch wenn ich Unsinn erzähle, weil Du es magst, wenn einer aus einem Füllhorn von Gedanken, auch wenn sie noch so ungeordnet, sprudelt. Es ist so, als würdest Du der rieseigen Krematoriumshalle in Baumschulenweg, worin Du ein Jahr ganz allein gewohnt, entfliehen - und plötzlich auf einen arabischen Basar geraten.
Dich durchströmt ein wohliger Schauer und Du magst auf einmal auch den Nieselregen. Er paßt einfach dazu, er ist so frisch, als machte man eine Metamorphose durch. Du sagst nicht viel, Du nickst nur und spürst dieses Strömen in Dir. Lieber Gott, laß das nicht so schnell zu Ende geh’n.
Wir sind jetzt an der Friedrichsgracht. Wir kommen auf sie von einer steinernen Brücke an deren rechtem Ende eine alte Linde steht. Im Hintergrund das Stadthaus, ganz schemenhaft die DDR-Fahne, mehr hängend, als wehend. Nur im Licht glänzt das Pflaster in mittlerem Grau, im Schatten tiefdunkles Anthrazit. Die Häuser sind ganz verschieden hoch, sie stammen aus einer Zeit, wo die Menschen nach dem Geldbeutel bauten und Einheitlichkeit noch nicht der dominierende Zeitgeist war. Jedes Haus anders, nur wenige mit Erker. Alle aber haben eines gemein: ihr Putz ist tiefgrau bis nicht vorhanden. Der Anblick der ganzen Straßenfront hat wirklich etwas melancholisch Schönes, vor allem in der Nässe. Nur wenige Menschen sind sichtbar. Manche haben es eilig, die tragen einen Schirm. Ein Mann steht am grauen, aber nicht verrosteten Stahlgeländer und schaut in das grauschwarze Wasser, das kaum fließt. Er sieht so melancholisch aus, wie die ganze Stimmung, er ist der zentrale Punkt des Bildes. Viel Zeit scheint er zu haben und die Nässe macht ihm nichts. Hastig schreitet eine Frau ohne Schirm vorbei. Sie hat Absatzschuhe an und jeder ihrer Schritte hallt noch länger an der Häuserfront nach. Es hört sich wichtig an, wie sie läuft, aber ihr Gesicht deutet nicht darauf hin. Sie ist vom Typ Frau, die in solchen Situationen vor allem die Rettung ihrer Frisur im Auge haben. Nur wenige Fenster sind offen und ich kann den leicht feuchten Geruch der alten Wohnungen riechen. In diesen Wohnungen ist es gleichgültig, ob man lüftet oder nicht, sie sind immer feucht. Es scheint, als stiege die Feuchtigkeit aus der Erde nach oben, langsam, wie der Tod die Häuser in den Rentnerquartieren heimsucht, Etage für Etage und irgendwann sind auch wir dran...
Wir haben lange nichts gesagt, aber wir merken, daß wir unsere Körper im Gehen aneinander drücken, als fröstelten wir beide und wollten uns wärmen, Arm an Arm, Schulter an Schulter. Wir brauchen uns nicht anzuschauen, um zu erfassen, wie schön doch diese auch graue Welt war, mit ihrer intimen Sentimentalität. Kein Dönerstand, kein Verkehrslärm, keine schreiende Reklame, keine multikulturellen Völkergruppen, einfach nur Menschen, die zu den Häusern passen und ihrer leicht traurigen Schönheit leben.
Wir finden eine kleine Kneipe, der Name ist kaum leserlich, das Lokalschild ist ziemlich verblichen. Innen ein kühler, säuerlicher Geruch, wie nach altem Bier, im Radio Rias 2. Am Schanktisch ein sehr dicker, rothäutiger Mann mit langen Koteletten, der gerade aufwendig Gläser spült. Er mustert uns argwöhnisch. Man sieht ihm an, daß wir nicht hierher gehören und dass er uns deshalb nicht mag. Fremde, das bringt meistens Ärger.
Ich bestelle ein Bier, du einen Kaffee. Als er serviert, wissen wir, daß wir nicht lange bleiben werden. Ich rufe, 'wir zahlen gleich'. Er kommt mit dem Zettel: 'Eine Mark-zehn'. Ich suche mein Geld und stelle fest: Euro. Er sagt, was ist das? Das ist doch kein Geld! Ich: das ist das Nachfolgegeld der DEMARK. Er schaut mich an, mit diesem Blick, 'also ab ins Griesinger'. „Also, verarschen kann ick mir alleeeene. Ick will richtjet Jeld...“. Da fingerst Du in Deiner Geldbörse und holst einen Dollar raus. Seine Augen bekommen wieder Farbe und der Mund strafft sich wieder. Dieses Geld kennt er. Du sagst: „Ohne Rechnung, stimmt so...“ Und das Geld verschwindet sofort in seiner Tasche.
Wir gehen, ohne Tschüss zu sagen und stehen plötzlich auf dem S-Bahnhof Jannowitzbrücke, nun wieder in der Wirklichkeit. In der S-Bahn ist es voll. Wir sitzen auf der langen Bank nebeneinander.
Wir sagen gar nichts und drücken nur unsere Schultern aneinander. Ostkreuz steigen wir aus. Unsere Wege trennen sich. Du schaust mich lange fragend an und sagst dann: Das war es, was ich meinte.
Ich sage: ich schreibe Dir jetzt öfter. Dein Zug kommt. Es geht alles so schnell auf dem Ostkreuz. Der ist leerer. Du setzt Dich ans Fenster, ein kleiner flüchtiger, fast unsicherer Blick und ein
Zucken in Deinen Mundwinkeln, dann fährt Dein Kopf an mir vorbei und ich sehe nur noch die roten Lichter am Heck des Zuges, immer kleiner werdend und irgendwann, sich in der Vielfalt aller
Lichter leis' verlierend...
© Ole Pauperkotte, Februar 2003
Und hier noch einige schöne Fotos von der historischen Friedrichsgracht. Schöne Erinnerungen an unsere alte Heimat, einer Zeit, die zwar beschwerlich, aber nicht
so hektisch und umtriebig war, wie die unsrige. Die letzten beiden Bilder zeigen die im
2. Weltkrieg zerstörte Friedrichsgracht. Nichts wird mehr so sein, wie es mal war...
Panta Rhei. Du kannst nicht zweimal in den selben Fluss steigen.