Isi, so nannten alle meine Mutter, und so will ich sie auch heute ehren. Wir feiern heute ihren 100. Geburtstag. Leider kann sie ihn nicht mehr mitfeiern, aber ich hoffe, sie beobachtet uns aus dem Himmel und lächelt uns milde zu. Ich will von ihrem Leben berichten, von schweren Zeiten, schließlich hat sie als sehr junge Frau den Krieg miterleben müssen, aber auch von schönen Jahren, v.a. den 50er und 60er Jahren, wo es langsam wieder aufwärts ging und wir eine kleine Familie waren. Ich erinnere mich sehr gerne an diese Zeit und sie gab sich alle Mühe, eine großartige Familienmutter zu sein. Vielen Dank sei dir gesagt, Mutti! Ich hatte eine wunderschöne Kindheit und möchte keinen Tag missen. Wichtig war damals aus heutiger Sicht, es ging vorwärts.
Es sind die letzten Julitage des Jahres 1923. Eine Frau aus wirklich wirtschaftlich einfachen Verhältnissen begibt sich mit der Straßenbahn in ein Kreuzberger Krankenhaus, ihr zweites Kind zur Welt zu bringen. Sie arbeitet als Putzkraft in Haushalten von Besserverdienenden. Ihr Mann verlor als Kind beim Sturz von einem Baum ein Bein, weil Brand in die Wunde gelangte und keine rechtzeitige Hilfe erfolgte. In dieser Zeit hat er es schwer, mit seiner Behinderung eine Arbeit zu finden. Er verkauft Veranstaltungsprogramme in Sportstadien. Das Geld ist knapp.
Gerade vor einem Jahr und zwei Monaten hat sie die erste Tochter zur Welt gebracht, der Mann konnte nicht lange warten und das in dieser Zeit. Es ist die Zeit der Hyperinflation. Was man morgens verdiente, war abendes nichts mehr wert. So wollten die Machthaber die Reparationszahlungen an die Siegermächte bezahlen, natürlich, wie immer, auf Kosten der Bevölkerung. Und so kam sie mit unruhigen Gedanken über die Zukunft im Krankenhaus an und gebar ein weiteres Mädchen, meine Mutter. Sie nannten sie Elisabeth - und weil die große Schwester in ihrer Kindheit den Namen nicht so aussprechen konnte, nannte sie sie Isi. Und dieser Name begleitete sie ihr ganzes Leben.
Das ist meine Großmutter, die just ihre zweite Tochter gebar, hier auf dem Foto allerdings schon in einem höheren Alter. Es gibt nicht viele Fotos aus dieser Zeit.
Sie hatte ein schweres Leben. Die sog. "goldenen Zwanziger Jahre" waren alles andere als goldig für die wirkliche Arbeitenden. Bei Fallada könnem wir Spätgeborenen es nachlesen. Alle Fotos, die
ich von ihr finden konnte, zeigen ein ernstes, trauriges, leidgeplagtes Gesicht. Erst nach dem Krieg, als sie dann Rentnerin war und ich sie als die liebste Omi, die man sich denken kann,
kennlernte, war wieder Lächeln auf ihrem Gesicht. Ihre größte Freude war dann, uns Ostler auf einen Windbeutel mit Schlagsahne bei "Messerschmidt" in der Sonnenalle einzuladen. Unvergessen waren
meine Begegnungen mit ihr im Schulenburgpark, den man damals noch ganz unbedarft besuchen konnte. Dort hat sie oft auf mich aufgepasst, wenn meine Mutter zur Arbeit war.
So wuchs meine Mutter als kleines Kind heran und es ist nicht viel Konkretes oder Bildhaftes aus den 20ern bekannt.
Es sind die späten Dreißiger. Das einzige Foto aus dieser Zeit. Hier steht sie mit ihrem Papa ca. 16-jährig. Zu ihm hatte sie später sein kritisches Verhältnis. Er soll jähzornig und auch despotisch gewesen sein, was aber in der damaligen Zeit nichts Besonderes war, eine autoritäre Gesellschaft, von der Spitze bis rein in die Familie. Es war der Vorabend des 2. Weltkriegs, die letzten schönen Sommertage, dann ging der Horror los. Nicht so spürbar zunächst in Deutschland, für die überfallenen Länder aber allemal. Nichts deutet hier auf das Grauen hin, was auch den deutschen Familien noch bevorsteht. Was mich aber erinnert, die 30er Jahre haben in den Menschen von damals über die Schulbildung und das gesellschaftliche Milieu Spuren hinterlassen. An vielen Begriffen, die sie noch in den 60ern benutzte, hat man das deutlich gesehen. Ich habe die mir als Kind nur einfach gemerkt, weil ich oft Adressat der Begrifflichkeiten war, erst später konnte ich sie werten. Ins Detail möchte ich aber nicht gehen.
Im Krieg. Hier sieht man meine Oma und ihre 2 Töchter in ihrer Wohnung nahe der Kreuzberger Jacobikirche. Der Vater war 1942 verstorben und die Frauen waren nun in der Kriegswirtschaft beschäftigt. Noch steht die Wohnung und meine Mutter hat mir immer erzaählt, dass Oma ganz viele Lebensmittel akkumuliert hatte, vom Munde abgespart, für noch schlechtere Zeiten. Sie haben in ihren Tagessachen geschlafen, den gepackten Koffer neben dem Bett, jede Nacht war Bombenalarm. Dann, in der schlimmen Bombennacht am 3. Februar 1945 traf es auch ihr Haus. Meine Mutter hatte Nachtschicht und kam früh nach Hause, aber das Haus, die ganze Häuserzeile war weg, nur noch Schuttberge, Flammen, Qualm. Meine Oma war tagelang verschüttet, dann hat man sie ausgegraben, sie hat überlebt, aber alles, was an bescheidener Habe noch existierte, war weg. Psychisch hat das nachhaltige Folgen gezeitigt. Mein Oma hat panische Angst vor Enge und meine Mutter hat noch in den 60ern, als in der DDR jede Woche einmal die Sirenen geprüft wurden, richtige Panikattacken bekommen. Über die Befreiung durch die Russen und die Vergewaltigung von Frauen will ich hier nicht schreiben.
Es sind die ersten Monate der Nachkriegszeit. Meine Mutter hatte Ende der 30er eine Lehre bei einer namhaften Firma des Maschinen- und Fahrzeugbaus als Stenokontoristin begonnen und absolviert und wurde von diesem Betrieb auch übernommen, damals ein ansehnlicher Job für Frauen. Hier sieht man sie in Begleitung der "feinen Herren der Geschäftsführung" bei einem Betriebsvergnügen in "Richtershorn". Man konnte wieder lachen, auch wenn die Zeit eigentlich gar nicht so war. Aber die Geschäfte gingen weiter. Es muss ja immer weitergehen und es gab viel zu tun.
Nach den schrecklichen Jahren des Krieges hatten die Menschen einen Riesenhunger auf ein bisschen Vergnügen. Am Kottbusser Damm gab es ein Tanzlokal "Rio Rina", das damals äußerst beliebt war und
eines Tages machten sich Isi und Hotti auf den Weg, ein bisschen Vergnügen zu finden, Musik zu hören, das Tanzbein zu schwingen und nette Leute kennenzulernen. Getanzt wurde nach Songs der damals
aktuellen amerikanischen Bigbands wie Glenn Miller, Count Basie, Lionel Hampton und Duke Ellington. Es gab aber damals kein Bier oder Wein, das was sie tranken, nannte man damals Alkoholat.
Wenn ich recht erinnere, gab es in Kneipen auch alles auf Marken.
Und so lernten sich meine Eltern kennen und es war der Beginn einer wunderbaren Liebe.
1948 haben sie dann geheiratet, zum Glück hatten sie eine Wohnung, die der Hotti von seiner Mutter übernommen hatte, die schon 1945 gestorben war.
Nach ein paar Jahren kam ich dann und die beiden haben sich riesig gefreut. Nun waren wir eine komplette Familie. Brüder oder Schwestern habe ich leider nicht bekommen, ich wurde ein typisches Einzelkind mit all seinen Besonderheiten. Meine erste Erinnerung, die bis heute nachhaltig ist, war der Blick von meinem Kinderbettchen auf einen textilen Wandbehang, den meine verstorbene Großmutter dort noch anbrachte. Den habe ich immer beschaut, es war eine Idylle aus einem heideländlichen Milieu.
Die Zeiten in den 50ern waren nicht einfach und beide Eltern mussten arbeiten gehen. Meine Mutter war in den ertsen Jahren "Grenzgängerin", d.h. sie arbeitete in Westberlin in ihrer angestammten Firma. Vor der Mauer ging das noch. Also musste ich in den Kindergarten. Ich bin der Vierte von links. Ich kann mich sogar noch an einige Namen der Kinder erinnern. Das linke Mädchen war die Tochter der Kindergartenchefin, an die ich eine sehr gute Erinnerung habe. Kinder in den Kindergarten zu geben galt damals als irgendwie perfide. Deshalb kam oft meine Oma, mich zu betreuen. Der Gnadenerlass hieß damals: brauchst heute nicht in den Kindergarten, Oma kommt.
Unser erster Urlaub in Lubmin. Mein Vater hatte über seine Arbeitsstelle, der Deutschen Reichsbahn, eine Urlaubsstelle ergattert, was im Jahr 1956 nicht einfach war. Wir waren alle sehr glücklich und haben jeden Tag ganz viel gebadet. Der Bodden sah so weit aus wie die Ostsee und nur bei ganz klarem Wetter sah man die Küsten Rügens, die Gagerschen Alpen. Es war unsere einzige Urlaubsreise. Später sind wir immer mit dem Jollenkreuzer zum Scharmützelsee gefahren, zum Segelurlaub.
Es ist das jahr 1957. Mein Vater, ein alter Segler, sitzt mit uns an der Bammelecke, wo wir oft baden waren, und schaut sehnsüchtig den Seglern hinterher. Da sagt meine Mutter, wollen wir uns nicht auch ein Segelboot kaufen? Ja, schön wärs, sagt mein Vater, aber woher das Geld nehmen? Lange überlegt und bei einem Gespräch in der Familie sagt Onkel Bruno, mein Patenonkel, ich borge euch das Geld. Es war eine O-Jolle, die kostete damals 2.000 Mark. Onkel Bruno hat einen Teil dazu gegeben.
1959. Meine liebe Oma ist gestorben. Sie hinterließ uns ein Sparbuch in Westgeld. Sie hatte es im Futter ihrer Handtasche eingenäht. Mein Papa hatte es gefunden. Für heute bescheiden, vermachte sie uns einen Betrag, der reichte, uns nach dem Umtausch in Ostgeld einen Jollenkreuzer zu kaufen. 7.000 Ostmark hat der damals gekostet. Gekauft in Teupitz, die Überführung nach Berlin war eine Odyssee, der alte Rotbart-Motor aus den 30er Jahren hat die Hufe breitgemacht und wir hatten echte Schwierigkeiten nach Hause zu kommen. Es bleibt die Erinnerung an ein schönes Abenteuer. Mit dem Jollenkreuzer waren wir oft im Urlaub am Scharmützelsee und mein Papa hat so manchen Preis bei Regatten gewonnen. Mit seiner Isi.
Das erste Enkelchen wurde geboren. Hier sieht man sie im fortgeschrittenen Alter mit ihrer Schwester Käthe und beim Spaziergang mit dem Enkelchen.
Mein Vater starb viel zu früh, mit 49. Als meine Mutter Witwe wurde, war sie 47. Das ist zu früh. Es war ein echter Bruch in ihrem Leben. Damit will ich enden.
Wir sind, Isi zu ehren, runtergegangen, zum Langen See, gerade gegenüber der Insel und haben das Boot ins Wasser gesetzt, P244 mit dem Namen "Isi 100". An der ersten Stelle war stark auflandiger Wind und das Boot wurde immer wieder ans Ufer geworfen, Dann sind wir etwas südlich gelaufen, gleich hinter der Hirtenwiese, dort war es schön ruhig im Wasser und ich brachte es in sein Element. Nun segelt es rüber zur Rorwallinsel und Isi spendiert ne Lage für ihre alten Segelfreunde. Sie segelt rüber zur Heimat ihrer ewigen Sehnsucht. Dort wo sie sich am Allerwohlsten fühlte, in ihrem Leben.
So will ich dich ehren und dir danken, liebe Mutti. Du hast mir eine wunderschöne Kindheit beschert und mich auf den Weg zur Bildung gebracht, mit deinen strengen Auflagen bei den Hausaufgaben
der Schule. Aber du hast alles gut gemacht. Ich erinnere mich sehr gerne meiner Kindheit. Ich danke dir.
Weißt du, einen Tag nach deiner Beerdigung bin ich von der Arbeit auf der A20 nach Hause gefahren. An der Abfahrt Hellersdorf erschien mir im Himmel ein Bild von dir, dein Gesicht, ganz
groß. Du hast mich angeschaut und mich angelächelt und dein Gesicht blieb lange da. Dann verschwand es, ganz langsam und es waren keine Worte, nur der Blick.
Mach's gut, so lange ist's her. Ich bedanke mich ganz herzlich für deine Liebe.
28.7.2023